Lebensräume - Lebensträume
"Wohnst du noch, oder lebst du schon?" fragt die Werbung provozierend, und Heinrich Zille klagt: "Man kann einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen wie mit einer Axt". Wohnraum ist weit mehr als Mittel zum Zweck. Er ist Spiegel der eigenen Persönlichkeit und beeinflusst die Menschen, die sich in ihm bewegen. Das Thema Wohnen begleitet uns ein Leben lang. Fast in jedem dritten Haushalt stehen ein Umzug oder eine Renovierung an. Dabei sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt: Die einen leben in umgebauten Schwimmbädern und Baumkronen. Andere verwirklichen sich in Palästen mit acht Schlafzimmern und den berühmten goldenen Wasserhähnen. Was aber ist mit denen, die sich ihren Wohnraum nicht aussuchen können? Deren finanzielle Möglichkeiten nur beengtes Wohnen in tristen Vorstadtghettos oder heruntergekommenen Altbauten mit Lärmbelästigung und fehlenden Rückzugsmöglichkeiten zulassen? Wer in Berlin-Kreuzberg wohnt, lebt statistisch gesehen fünf Jahre kürzer als ein Zehlendorfer. Wie sieht der optimale Lebensraum aus? Von welcher Umgebung träumen die Deutschen? Ist gutes Wohnen allein eine Frage des Geldes? Wird Architektur den Anforderungen der Menschen, die sich in ihr bewegen, gerecht? Wieland Backes diskutiert im NACHTCAFé am 24. Oktober um 22 Uhr u.a. mit Roland Kaiser, Peter Conradi, Herlinde Koelbl und Bruno Bruni über "Lebensräume - Lebensträume" im SÜDWEST Fernsehen. Die Gäste: Santa Maria, die Azoren-Insel des gleichnamigen Evergreens von Roland Kaiser, konnte den Schlagerstar nicht locken. Umso mehr begeisterte ihn ein 200 Jahre altes niederdeutsches Bauernhaus. Dort in den alten Gemäuern will der 51-Jährige mit seiner neuen Frau Silvia Wurzeln schlagen und seinen Traum vom Wohnen verwirklichen, urgemütlich eingerichtet und umgeben von Wäldern. Design in Chrom und Glas lässt ihn frösteln, denn "in diesen Zimmern ist einem immer kalt, auch wenn man die Heizung voll aufdreht." Die renommierte Fotografin Herlinde Koelbl dokumentiert seit Jahren Menschen und ihre Wohnungen. Für ihren neuesten Fotoband wagte sie einen Blick ins intimste Zimmer des Hauses, ins Schlafzimmer. Ob ungeheizte Kammer oder kreativer Lebensmittelpunkt - die 64-Jährige fand von New York bis Moskau zahlreiche individuelle Bettstätten. Perfekt aber leblos wirken auf die Münchnerin viele Luxusvillen. Doch das Deprimierendste für sie ist, wenn "zwei Menschen in ihrem gemeinsamen Lebensraum sitzen und nichts miteinander anfangen können." Ausgesprochen hässlich findet der Jungautor Daniel Kehlmann deutsche Städte. Spießig erscheint ihm der Versuch, "die Innenstädte zu einer Art großem Wohnzimmer zu machen". Vor urbanen Schönheitsoperation wie der obligatorischen Weihnachtsbeleuchtung und zweitklassiger Kunst im öffentlichen Raum graut ihm ebenso wie vor den immer gleichen Fast-Food-Ketten und der Angewohnheit, den Müll im Pyjama rauszubringen. Der einzige Ausweg scheint für den 28-jährigen Wiener das kosmopolitische Leben in den Metropolen der Welt: "Deutsche Städte kommen in meinem Lebenstraum nicht vor. Nur in Alpträumen." Als Präsident der Bundesarchitektenkammer will der ehemalige Bundestagsabgeordnete Peter Conradi der Baukultur zu einem größeren Stellenwert verhelfen. Gute Architektur schafft Lebensqualität und Wohlbefinden. Doch auch der beste Grundriss schafft noch keine Heimat. Das Gefühl der Vertrautheit stellt sich für den Stuttgarter mit den Erinnerungen ein, die man mit Orten verbindet. Computergesteuerte Designhäuser hält er dagegen für eine Spielerei der Reichen, eine Zukunftschance gibt er dem ökologischen und nachhaltigen Bauen, denn, so Conradi, "wenn man auf 40 Jahre rechnet, ist ein Marmorboden deutlich günstiger als ein Teppichboden." Katrin Sonnemann hat, obwohl in Berlin aufgewachsen, mit dem Stadtleben so gar nichts am Hut. Zusammen mit ihrem Mann Friedmund und zwei kleinen Kindern lebt die 38-Jährige abgeschieden von jeglicher Zivilisation auf einem Hof im Hunsrück, ohne Strom und fließend Wasser. Der Lebenstraum der gelernten Gärtnerin ist es, dem Rhythmus der Natur zu folgen, und das verwirklicht sie im 60 Quadratmeter großen Lehmhaus mit Bioklo. Doch ihr Paradies wird bedroht, denn über die Felder ihrer Familie soll eine Bundesstraße gebaut werden. Der Künstler Bruno Bruni schuf sich in einer historischen Schwimmhalle seinen Lebens- und Arbeitsraum. Mit Liebe zum Detail gelang dem gebürtigen Italiener im ehemaligen Hamburger Stadtbad auf 600 Quadratmetern ein stilvolles Ambiente. Die Galerie, auf der sich die Umkleidekabinen befanden, nutzt er als Atelier, die offene Küche ist Mittelpunkt. Dort kocht er gerne für sich und befreundete Prominenz, auch Kanzler Schröder hat ihn schon besucht. Trotz seines üppigen und luxuriösen Wohntraums ist für den 68-Jährigen gutes Wohnen keine Frage des Geldes. An der Bar: Harald Schönebeck hatte von Kindesbeinen an einen konkreten Traum: das eigene Haus, Frau und Kinder. Alles konnte er verwirklichen, doch kostete das Lebensprojekt Eigenheim viel Schweiß und Blut. Über Jahre hinweg rackerte sich der sechsfache Familienvater für das Haus ab. Darüber vergaß er die Bedürfnisse seiner Familie. Sein ewiges Eigenengagement am Haus hatte die Ehefrau leid, bald schon kam die Trennung, dann die Insolvenz. Jetzt wurde sein Lebenswerk zwangsversteigert. Was folgen wird, ist noch ungewiss, dennoch ist er optimistisch und hat schon wieder einen Traum: "Wenn ich das Geld hätte, würde ich wieder bauen", so Schönebeck.
- 24.10.2003 22.00, SWR, Nachtcafé
- 25.10.2003 08.45, SWR, Nachtcafé
- 03.02.2004 10.15, 3SAT, Nachtcafé