Autor:
Giovanni Cortese
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Dieser Text ist Teil meiner Reihe mit 100 bedeutsamen Werken der Filmgeschichte. Wenn Sie mehr dazu wissen möchten, lesen Sie bitte zunächst den kurzen Einführungstext; da erkläre ich etwas genauer, was das hier soll.
100 Filme: City of God (Cidade de Deus)
Gangsterfilm, Brasilien/Frankreich 2002, Regie: Fernando Meirelles, Co-Regie: Kátia Lund, Buch: Bráulio Mantovani nach dem Roman von Paulo Lins, Kamera: César Charlone, mit Luis Otávio, Alexandre Rodrigues, Douglas Silva, Leandro Firmino da Hora, Phelipe Haagensen, Matheus Nachtergaele, Seu Jorge
Intro: In der letzten Woche habe ich mit Der Pate
den Film vorgestellt, der den Gangsterfilm Anfang der 70er Jahre neu definiert hat. Filmemacher wie Brian De Palma (Scarface
), Sergio Leone (Es war einmal in Amerika
), Martin Scorsese (Goodfellas
) oder Quentin Tarantino (Reservoir Dogs
) entwickelten mit der Zeit das heute gültige filmische Vokabular des Genres: die Maßstäbe, aber auch dessen Schablonen.
Vom organisierten Verbechen als einer Art Parallelwelt mit eigenem Moralkodex geht ohne Zweifel eine gewisse Anziehungskraft aus, zumindest auf der Leinwand. Kaum ein Gangsterfilm kann sich letztlich dem Einwand entziehen, dass er der Faszination des Bösen nicht auch ein wenig auf den Leim geht und die Figuren attraktiver darstellt als sie es verdienen. Das lässt sich freilich kaum von dem brasilianischen Slum-Drama City of God
behaupten.
Inhalt: Der junge Buscapé wächst im schlimmsten Armutsviertel von Rio de Janeiro auf. Mit ehrlicher Arbeit ist hier nicht viel zu holen. Sein älterer Bruder hat sich bereits einer Gang angeschlossen und wird eines Tages von dem psychopathischen Knirps Löckchen
erschossen.
Jahre später ist Löckchen zu Locke herangewachsen und kontrolliert den Drogenhandel des Viertels. Nur ein Konkurrent ist noch verblieben. Gebremst wird der sehr tötungsfreudige Locke (Foto, rechts) nur von seinem Kumpel und Kompagnon Bené. Nach dessen gewaltsamem Tod ist ein Bandenkrieg nicht mehr zu verhindern. Buscapé, selbst zu gutmütig für das Gangsterleben, träumt unterdessen von einer Karriere als Fotograf. Als er der Presse brandheiße Fotos von Locke liefern kann, winkt seine große Chance.
Filmhistorisch bedeutsam, weil: Das Gangstertum in City of God
hat nichts Romantisches mehr. Locke ist ganz sicher einer der übelsten Psychopathen, die es jemals auf die Leinwand geschafft haben. Zunächst mordet er noch zum Vergnügen, später tötet er mit der Gleichgültigkeit, mit der andere eine Fliege erschlagen (etwa, wenn einer seiner Kumpel ihn mit seinem Geschwätz nervt). Doch der Film macht nur zu deutlich, dass dieses Monstrum keinesfalls die Ausnahme ist. Die nachwachsende Generation aus Kinderbanden setzt sich nur noch aus solchen Figuren zusammen. Und so ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch die mächtigsten Bosse den Weg einer Kugel kreuzen. Auch für Kinder gibt es keine Gnade: Wozu auch, schließlich haben selbst die Kleinsten sehr lockere Finger am Abzug. Die Lebenserwartung in der City of God ist nicht allzu hoch.
Regisseur Meirelles zeigt die im Kern wahre Geschichte nicht aus der Sicht des moralisierenden Pädagogen; er macht daraus pralles und spannendes Kino, das die erhebliche Stoffmenge der Romanvorlage geschickt verdichtet. In der Darstellung des Milieus haben die genannten Filmvorbilder von Scorsese bis Tarantino sicherlich ihre Spuren hinterlassen. Andererseits färbt inzwischen natürlich auch das Kino aufs wahre Leben ab: Die Manierismen der Leinwandgangster von Paul Muni bis Al Pacino werden so zur Chiffre für Kleinganoven und Möchtegern-Ghettokönige in aller Welt, angefangen beim ordinären Gelaber über die Gestik bis hin zum Erscheinungsbild. Dieser Locke freilich wird kaum als Vorbild herhalten. Konsequent zeigt der Film ihn als hässliches kleines Würstchen, das bei Frauen abblitzt und im tiefsten Inneren von Komplexen gequält wird.
Kameramann César Charlone fängt dieses Slum-Leben in angemessen trostlosen Bildern ein. Deren Realismus wird freilich an etlichen Stellen untergraben durch die allzu sehr auf schick getrimmte Inszenierung, die mit betont originellen Montagen, erzählerischen Ellipsen und visuellem Firlefanz zu imponieren sucht und dadurch immer wieder die Aufmerksamkeit an sich reißt. Immer dort ist der Film mehr in der Ästhetik der Videoclips und Werbespots verwurzelt als im unbestechlich nüchtern beobachtenden Neorealismus von Luis Buñuels Die Vergessenen
(Los Olvidados
, Mexiko 1950). Alle Fans von City of God
sollten unbedingt auch in diesen Klassiker einmal hineinschauen.