Autor:
Giovanni Cortese
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Dieser Text ist Teil meiner Reihe mit 100 bedeutsamen Werken der Filmgeschichte. Wenn Sie mehr dazu wissen möchten, lesen Sie bitte zunächst den kurzen Einführungstext; da erkläre ich etwas genauer, was das hier soll.
(Historiendrama, USA 1915, Regie: David Wark Griffith, mit Lillian Gish, Mae Marsh, Henry B. Walthall, Miriam Cooper, Mary Alden, Ralph Lewis, George Siegmann, Walter Long, s/w, stumm)
Intro: Inhalt und Form sind bei einem Kunstwerk immer zwei Paar Schuhe. Im Zeitalter der political correctness wäre ein Film wie Die Geburt einer Nation
undenkbar, jedenfalls im Mainstream-Kino. Aber seit seiner Entstehung sind fast 100 Jahre vergangen, und Regisseur David Wark Griffith war, wie jeder andere auch, ein Kind seiner Zeit. Das kann und darf niemand übersehen, dem die Aussage dieses Werks heute eher befremdlich anmutet: Es ist ein durch und durch rassistisches Loblied auf den Ku-Klux-Klan, und dennoch kann sein Einfluss auf die Evolution des Kinos kaum überschätzt werden.
Inhalt: USA 1861: Die befreundeten Familien Stoneman und Cameron werden durch den Bürgerkrieg zu Feinden. Nach dem Sieg der Nordstaaten und der Ermordung Abraham Lincolns reißen lose Sitten ein. Die befreiten Sklaven missbrauchen ihre neuen Rechte und sabbern nach schnuckeligen weißen Frauen, die sich im Zweifel lieber in den Tod stürzen als von einem Schwarzen angrabschen zu lassen. Da gründen die weißen Recken den Geheimbund Ku-Klux-Klan, der mit drastischen Methoden für Ruhe und Ordnung sorgt.
Filmhistorisch bedeutsam, weil: David Wark Griffith erzählt die Geschichte des amerikanischen Bürgerkrieges aus der Sicht der unterlegenen Südstaaten. Er war wohl kaum ein fanatischer Rassist, aber in seinem Weltbild gehörte der Neger
eben aufs Baumwollfeld und nicht ins Oval Office. Dementsprechend feiert er die Ku-Kluxer ganz unreflektiert als aufrechte Recken, die den Grundstein für die titelgebende Geburt einer Nation geben. Denn, so verrät ein Zwischentitel:
The former enemies of North and South are united again in common defense of their Aryan birthright.
Die Schwarzen werden zum Teil von geschminkten Weißen gespielt, da es den weißen Darstellerinnen nicht zuzumuten war, mit echten Schwarzen gemeinsame Szenen zu spielen. Das muss ein unvorbereitetes Publikum von heute verstören. Sicher ist, dass Die Geburt einer Nation
für eine ethisch indiskutable Haltung steht, und das auch noch mit schwerwiegenden Folgen. Der ungeheure Erfolg des Films führte 1915 zur Neugründung des Ku-Klux-Klans, und damit demonstrierte Griffith zum ersten Mal eindrucksvoll das propagandistische Potenzial der Leinwand. Der amerikanische Kritikerpapst Roger Ebert bringt es auf den Punkt:
The Birth of a Nation is not a bad film because it argues for evil. Like Riefenstahl's The Triumph of the Will, it is a great film that argues for evil. To understand how it does so is to learn a great deal about film, and even something about evil.
Aber wie kann ein rassistischer Propagandafilm a great film
sein? Auf der einen Seite mag Griffith politisch naiv und rückständig gewesen sein, in künstlerischer Hinsicht dagegen war er seiner Zeit weit voraus. Sehr weit. Kein anderer Regisseur seiner Zeit nutzte die Möglichkeiten des Bildschnitts so geschickt wie er: Während sich die meisten anderen Filme noch statisch der bühnenhaften Totalen verpflichtet zeigten, wusste Griffith ganz genau, welchen manipulativen Effekt er zum Beispiel durch die gezielt eingesetzte Großaufnahme eines weinenden Kindes erzielen konnte - oder auch durch die Dynamik einer bewegten Kamera, die hautnah mit den heldenhaften Ku-Kluxern mitreitet - oder durch die Parallelmontage zeitgleicher Handlungsstränge … Die vielen filmsprachlichen Neuerungen in Die Geburt einer Nation
hat Griffith im einzelnen nicht erfunden. Aber niemand setzte sie geschickter und konsequenter ein.
Auch die Laufzeit sprengte alle bis dahin bekannten Maße. Damals waren die meisten Filme kurz, hauptsächlich Ein- oder Zweiakter von 20 bis 40 Minuten Länge. Griffith selbst hatte seit 1908 buchstäblich Hunderte von Filmen gedreht, ungefähr einen pro Woche, wie am Fließband. Aber um 1913/14 herum reichte ihm dieses Kleinformat nicht mehr. Seine Werke wurden komplexer, länger und teurer. Als dann in Italien der zweieinhalbstündige Monumentalfilm Cabiria
erschien und ein Riesenerfolg wurde, gab es für Griffith kein Halten mehr.
Schon in der Planungsphase nahm Die Geburt einer Nation
ungekannte Ausmaße an. Angesichts der zu erwartenden Kosten winkten sämtliche Studios dankend ab. Griffith gründete daraufhin seine eigene Gesellschaft und konnte fortan tun und lassen, was er wollte. Am Ende wurde sein Epos über drei Stunden lang. Das war zu einer Zeit, da das Publikum viertelstündige Shakespeare-Adaptionen nicht ungewöhnlich knapp fand, ein Wagnis. Aber Griffith wurde belohnt. Sein Film spielte über Jahre hinweg Unsummen ein; einige Quellen behaupten, dies sei der kassenträchtigste Stummfilm überhaupt, was durchaus stimmen kann. Griffith steckte die Einnahmen sogleich in ein noch ambitionierteres Projekt, den extrem kostspieligen Monumentalfilm Intoleranz
von 1916, und erlitt prompt kommerziellen Schiffbruch.
Natürlich haben sich die Sehgewohnheiten seit 1915 doch ein klein wenig geändert. Wer mit solch altem Material nicht wenigstens ein bisschen vertraut ist, wird gewisse Probleme haben, einen dreistündigen Stummfilm ohne Anstrengung durchzustehen. Dafür muss man das Filmegucken gewissermaßen von der Pike auf gelernt haben. Es spricht allerdings nichts dagegen, sich dieses dreistündige Monstrum nach und nach in kleinen Häppchen anzuschauen. Mit der Gewöhnung kommt dann auch das Verständnis für diese Art von Filmsprache. Außerdem ist es zumindest historisch hochinteressant, die Geschichte des amerikanischen Bürgerkriegs einmal aus der Perspektive der Verlierer zu sehen.
Griffiths bahnbrechendes Werk befreite das noch relativ junge Medium Film endgültig vom Image der Guckkasten-Sensation in Jahrmarktsbuden. So ist Die Geburt einer Nation
in gewisser Weise die Geburt des modernen Kinos.