Autor:
Giovanni Cortese
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Dieser Text ist Teil meiner Reihe mit 100 bedeutsamen Werken der Filmgeschichte. Wenn Sie mehr dazu wissen möchten, lesen Sie bitte zunächst den kurzen Einführungstext; da erkläre ich etwas genauer, was das hier soll.
(Horror, Frankreich/Deutschland 1932, Regie: Carl Theodor Dreyer, Kamera: Rudolph Maté, mit Julian West (= Baron Nicolas de Gunzburg), Rena Mandel, Jan Hieronimko, Sybille Schmitz, Maurice Schutz, Albert Bras, s/w)
Inhalt: Manchen Filmen kann eine simple Inhaltsangabe einfach nicht gerecht werden. Die Handlung in Dreyers Vampyr
ist dürftig und letztendlich auch nicht wichtig: Der zu phantastischen Spinnereien neigende Student Allan kommt in einem französischen Dorf an und steigt in einer Herberge ab. Nachdem er sich zur Ruhe gelegt hat, erscheint ein seltsamer alter Mann in seinem Zimmer, der kryptisches Zeug von sich gibt (Sie darf nicht sterben!
). Allan schaut sich daraufhin das Haus ein wenig genauer an und stellt angesichts zahlreicher Schattengestalten fest, dass es dort anscheinend kräftig spukt. Er erfährt, dass die junge Léone, eine Bewohnerin des Hauses, todkrank darnieder liegt, weil ein weiblicher Vampir ab und an ihr herumsaugt. Ein zwielichtiger Arzt bittet Allan um eine Blutspende, die er gern gibt. Doch das bekommt ihm nicht gut; er beginnt zu halluzinieren und erlebt seine eigene Beerdigung, bevor er dem schändlichen Treiben endlich ein Ende setzen kann.
Filmhistorisch bedeutsam, weil: Unter allen Vampirfilmen ist der erste Tonfilm von Carl Theodor Dreyer sicherlich einer der eigenwilligsten. Das übliche Blutgesauge spielt keine große Rolle, und die Inszenierung dient ausschließlich der unheimlichen Atmosphäre. Durch die oft kontrastarmen und fahlen Bilder, die Dreyer teilweise durch einen Gaze-Schleier aufnehmen ließ, und das diffuse Licht wird nie ganz klar, ob das Geschehen das Produkt einer übersteigerten Phantasie, ein Traum oder vielleicht doch Realität ist. Das gilt besonders für das erste und das letzte Drittel, während im Mittelteil mit zum Teil langen Schrifttiteln die eigentliche Handlung entwickelt wird.
Dabei kommt der nur gut siebzigminütige Film fast ganz ohne Worte aus. Der gesamte gesprochene Dialog dürfte bequem auf einem Bierdeckel Platz finden. Seinem Wesen nach ist Vampyr
eher noch ein Stummfilm, ohne dass der Mangel an Gelaber jemals störend wirkt (im Gegenteil). Ohnehin war es im frühen Tonfilm sicher nicht ganz einfach, eine französisch-deutsche Koproduktion mit einem niederländischen Hauptdarsteller, einem dänischen Regisseur und einem polnischen Kameramann zu drehen. Schon aus diesen Gründen schien es ratsam, den Dialog auf ein absolutes Minimum zu beschränken, und Dreyer macht aus der Not eine Tugend. Zudem lässt er seine Laiendarsteller das bisschen Text ohne viel Betonung und recht monoton aufsagen, was den Eindruck des Unwirklichen noch verstärkt.
Auf Schocks und Gewalt kann Dreyer ganz verzichten. Er vertraut auf die von Rudolph Maté brillant eingefangenen Bildkompositionen, die ihre unheimliche Wirkung auch bei einem aufgeschlossenen modernen Publikum nicht verfehlen. Zu den Höhepunkten zählt die teils mit subjektiver Kamera eingefangene Szene, in der Allan lebendig zu Grabe getragen wird. Aber auch die Schattenspiele an den kahlen Wänden und das stets bleich wirkende Licht machen Vampyr
auch und gerade da spannend, wo im Grunde gar nichts Großartiges geschieht.
Abspann: Carl Theodor Dreyer drehte nach Vampyr
in über 30 Jahren nur noch drei weitere Filme, Vredens Dag
(1943), Ordet
(1955) und Gertrud
(1964). Sein Kameramann Maté ging nach Hollywood und inszenierte dort unter anderem den Science-Fiction-Klassiker Der jüngste Tag
(1951).