Autor:
Giovanni Cortese
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Dieser Text ist Teil meiner Reihe mit 100 bedeutsamen Werken der Filmgeschichte. Wenn Sie mehr dazu wissen möchten, lesen Sie bitte zunächst den kurzen Einführungstext; da erkläre ich etwas genauer, was das hier soll.
Das Ende von St. Petersburg (Конец Санкт-Петербурга)
Drama, Sowjetunion 1927, Regie: Wsewolod Pudowkin, Buch: Nathan Zarkhi, Kamera: Anatoli Golovnya, mit Aleksandr Chistiakov, Vera Baranovskaia, Ivan Chuvelev
Inhalt: Russland, kurz vor dem Ersten Weltkrieg: Ein junger Mann kommt mit seiner Frau in die Stadt, um einen Job zu suchen. Doch die Arbeitsbedingungen sind nicht gerade freundlich. Als die Fabrikbesitzer mal wieder ihre Gewinne optimieren und die Arbeitszeiten heraufsetzen wollen, kommt es zum Streik. Der junge Arbeiter vom Land wird aus Naivität zum Streikbrecher und Verräter. Als er erkennt, dass er ausgenutzt wurde, lässt er die Fäuste fliegen und landet im Knast. Inzwischen ist der Krieg ausgebrochen. Unter der Bedingung, sich freiwillig
an die Front zu melden, kommt er frei. Jahrelang zieht sich der Krieg hin; einige wenige verdienen sich daran dumm und dämlich. Schließlich hat das Volk genug und erhebt sich zur Oktoberrevolution. Aus St. Petersburg wird Leningrad.
Filmhistorisch bedeutsam, weil: Schon früh wurde in verschiedenen Ländern das Potenzial des Films für Propaganda-Zwecke erkannt. Niemand ging dabei so konsequent vor wie die sowjetischen Regisseure, die regelrecht wissenschaftliche Experimente anstellten, um die manipulative Wirkung von Bildmontagen zu erkunden. Einige brachten es darin zu solcher Könnerschaft, dass sie die Grammatik des Films nachhaltig beeinflussten. Neben Sergej Eisenstein galt vor allem Wsewolod Pudowkin als Meister seines Fachs.
Als sich 1927 die Oktoberrevolution zum zehnten Mal jährte, wollte die Sowjetführung das gleich mit zwei Großproduktionen entsprechend propagandistisch gewürdigt wissen. Die Aufträge gingen logischerweise an Eisenstein mit Oktober
und Pudowkin, der sich zuvor mit Mutter
(1926) in die erste Liga der parteitreuen Regisseure gedreht hatte.
Wie nicht anders zu erwarten, nutzen beide die Gelegenheit zu holzschnittartiger Agitprop, die jedoch ihre Wirkung jedoch nicht verfehlt, selbst heute noch. Während Eisenstein, wie schon in seinem Panzerkreuzer Potemkin
(1925), auf individuell handelnde Charaktere verzichtete, stellt Pudowkin ein exemplarisches Einzelschicksal in den Fokus. Allerdings verliert auch er die Geschichte seines ausgebeuteten Landburschen nicht selten aus den Augen, um seinem liebsten Hobby zu frönen: der Parallelmontage.
Pudowkin liebt grelle Kontraste, beispielsweise von schuftenden Arbeitern und feisten Ausbeutern. Überzeugende Propaganda braucht allerdings bei aller Überzeichnung einen wahren Kern, und zu dem stößt Pudowkin vor, als er die sinnbefreite Gier einzelner Turbokapitalisten zeigt: Nachdem ein Unternehmen Maximalgewinne eingefahren hat, muss natürlich als erstes die Arbeitszeit verlängert werden, um da noch ein bisschen mehr rauszukitzeln. Erinnert das wirklich niemanden an die Auswüchse der Shareholder Value-Ideologie in der jüngeren Gegenwart?
Pudowkin verwebt auch Bilder vom Frontgrauen mit Jubelexzessen an der Börse, wenn die Aktien der Kriegsindustrie in neue Höhen vorstoßen. Auch wenn derlei in heutigen Filmen etwas subtiler umgesetzt wird (meist jedenfalls), so weiß doch jeder durchschnittliche Kommerzregisseur, dass eine markante Kontrastmontage selten ohne Wirkung bleibt. Dabei setzt Pudowkin durchaus auch auf ungewöhnliche Einfälle, etwa wenn er das Glitzern einer ordensbehangenen Uniform mit Lichtreflexionen auf dem Wasser gegenschneidet. Bemerkenswert auch seine Bildfolgen von den zaristischen Monumenten, die in ehrfurchtgebietender Untersicht, in Gegenlicht und höchst einschüchternd ein visuelles Leitmotiv bilden. Zum Finale hin nähert sich die Schnittfrequenz dann gar dem modernen Videoclip an.
Über die Dreharbeiten berichtet Reclams Filmführer eine nette Anekdote. Pudowkin schrieb später:
Ich bombardierte das Winterpalais von der Aurora aus, während Eisenstein es von der Festung St. Peter und Paul aus bestürmte. Eines Nachts sprengte ich einen Teil der Dachbalustrade fort und fürchtete, Schwierigkeiten zu bekommen, doch zertrümmerte Eisenstein in derselben Nacht zum Glück die Scheiben von 200 Schlafzimmerfenstern. (Ausgabe 1991)