Autor:
Giovanni Cortese
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Dieser Text ist Teil meiner Reihe mit 100 bedeutsamen Werken der Filmgeschichte. Wenn Sie mehr dazu wissen möchten, lesen Sie bitte zunächst den kurzen Einführungstext; da erkläre ich etwas genauer, was das hier soll.
Drama, Türkei 1978, Regie: Zeki Ökten, Drehbuch: Yilmaz Güney, mit Tarik Akan, Melike Demirag, Erol Demiröz, Levent Inanir, Tuncel Kurtiz, Yaman Okay
Intro: Gewiss, es kann nicht Aufgabe des Kinos sein, vornehmlich als Informationslieferant zu dienen. Dafür ist das Schulfernsehen da, und wer sich für die Alltagsprobleme von, sagen wir, Polynesiern interessiert, findet dazu sicherlich interessante völkerkundliche Literatur oder einen flotten Dokumentarfilm.
Gleichwohl gibt es in dieser Liste bereits mehrere Filme, denen es gelingt, weit über die reine Zustandsbeschreibung hinaus Dinge sichtbar zu machen, die sonst entweder im Verborgenen bleiben oder Gefahr laufen, im Strom der Geschichte vergessen zu werden, zum Beispiel die Apu-Trilogie aus Indien oder Fahrraddiebe
aus Italien.
Ein solcher Film ist auch Die Herde
von Zeki Ökten. Er zeigt das Leben in Anatolien nicht gerade in schöngefärbter Hirtenromantik. Wenig überraschend deshalb, dass der Film unter schwierigen Bedingungen entstand. Yilmaz Güney schrieb das Drehbuch im Knast. Dort sollte er nach dem angeblichen Totschlag an einem Richter schlappe 24 Jahre absitzen (der Fall wurde indes nie wirklich aufgeklärt). 1981 gelang ihm die Flucht. Anschließend drehte er noch einige international weithin beachtete Filme wie Yol - Der Weg
(1982).
Inhalt: Die Sippe der Veysikans lebt als Schafzüchter in Anatolien. Sivan ist mit der jungen Berivan aus einer verfeindeten Sippe verheiratet. Aber sie ist schwer krank; ihre Kinder werden tot geboren. Da es der Sippe auch sonst nicht goldig geht, ist für Oberhaupt Hamo der Fall klar: Berivan ist verflucht und bringt nur Unglück.
Ihr Mann Sivan allerdings möchte sie nach Ankara zu einem guten Arzt bringen. Als eine Schafherde zum Verkauf in die Großstadt gebracht werden soll, sieht er seine Chance. Doch die Reise wird zur Katastrophe. Diebe und Betrüger zocken die Nomaden bei jeder Gelegenheit ab, und in Ankara weigert sich Berivan schließlich aus Scham, sich untersuchen zu lassen. Mit üblen Folgen.
Filmhistorisch bedeutsam, weil: Die Herde
ist bis heute einer der größten Auslandserfolge des türkischen Kinos. Die primitiven Produktionsbedingungen sind ihm jederzeit anzumerken (denn offizielle Unterstützung oder gar Staatskohle konnte man vergessen, und auch die Tourismusbranche hat das nicht co-finanziert.). Der Ton ist nicht gerade Hi-Fi; Farben und Ausleuchtung sind, nun ja, etwas besser als Super-8-Niveau. Aber Ökten macht aus der Not eine Tugend, und die völlige Schmucklosigkeit wird zum Kunstgriff. Wenigen Filmen gelingt es, eine karge und trostlose Landschaft so überzeugend in die Handlung zu integrieren.
Ökten und Güney zeigen eine beklemmend rückständige Gesellschaft, die von der Gegenwart Jahrhunderte entfernt ist. Aberglaube, religiöser Wahn, Hass und Blutrache bestimmen das Leben und führen am Ende die Sippe in den Abgrund, mit der unerbittlichen Konsequenz einer alttestamentarischen Hiobs-Geschichte. Die formale Kompromisslosigkeit zeigt sich unter anderem in einer realistisch gefilmten Sex-Szene (und das in einem muslimischen Land!): Eine körperbehinderte Frau hat offenbar in dieser Gesellschaft keine andere Chance, sich ihr Geld zu verdienen, als sich im Zug zu prostituieren und dabei notgeile Landeier auszunehmen.
So entsteht am Ende aus vielen exakt beobachteten Einzelheiten ein Mosaik der Ausweglosigkeit, und erschreckend daran ist, dass sich mancherorts an den Zuständen in den letzten 30 Jahren offenbar nicht viel geändert hat. Jedenfalls nicht zum Besseren.