Autor:
Giovanni Cortese
- Ort: Palermo oder Duisburg
- Dabei seit: 2002
- Giovannis Profil
- Alles von Giovanni
- Giovannis Chef
- Giovanni bei Twitter
Dieser Text ist Teil meiner Reihe mit 100 bedeutsamen Werken der Filmgeschichte. Wenn Sie mehr dazu wissen möchten, lesen Sie bitte zunächst den kurzen Einführungstext; da erkläre ich etwas genauer, was das hier soll.
Die Passion der Jungfrau von Orléans (La Passion de Jeanne d’Arc)
Historiendrama, Frankreich 1928, Regie: Carl Theodor Dreyer, Kamera: Rudolph Maté, mit Renée Jeanne Falconetti (auch Maria Falconetti genannt), Eugène Silvain, André Berley, Maurice Schutz, Antonin Artaud, Michel Simon, Jean d’Yd, Louis Ravet
Intro: Der dänische Regisseur Carl Theodor Dreyer ist bereits einmal in dieser Reihe vertreten. Vampyr (1932) ist ein Tonfilm, in dem so gut wie nicht gesprochen wird, Die Passion der Jungfrau von Orléans
dagegen ist ein Stummfilm über ein Verhör. Wie passt das zusammen? Die Frage drängt sich auf, ob Dreyer mit diesem Sujet nicht vielleicht besser noch zwei, drei Jährchen gewartet hätte. Denn schließlich stand 1928 der Tonfilm bereits vor der Tür (in dem ansonsten herzlich belanglosen The Jazz Singer
von 1927 taucht die erste gesprochene Dialogzeile auf, sinnigerweise You ain't heard nothin' yet!
). Aber Dreyers Jeanne d'Arc funktioniert tatsächlich perfekt als Stummfilm, und wer den Film einmal gesehen hat, vermisst den gesprochenen Dialog keine Sekunde.
Inhalt: Die äußere Handlung ist, wie schon bei dem bereits erwähnten Vampyr
, äußerst dünn: Basierend auf den Originalprozessakten rekonstruiert Dreyer Johannas Befragung durch die Inquisition nebst anschließender Verbrennung. Dabei dampft er das Geschehen auf einen einzigen Tag ein.
Filmhistorisch bedeutsam, weil: Da es keinen gesprochenen Dialog gibt, wandern die Fragen und Antworten logischerweise in die Zwischentitel, was aber keineswegs dazu führt, dass der Zuschauer aus dem Lesen nicht mehr herauskommt. Tatsächlich sind die Zwischentitel sogar insgesamt relativ sparsam eingesetzt. Für Dreyer spielt sich die wahre Handlung nicht im Gesagten ab; viel wichtiger ist das Innenleben seiner Figuren. Um dies ins rechte Licht zu rücken, schwört er allen vordergründigen Schauwerten ab und erzählt fast den ganzen Film in Groß- und Porträtaufnahmen. Sinngemäß sagte Dreyer einmal, das menschliche Gesicht sei für ihn eine Landschaft, die zu erforschen er niemals müde würde.
Folgerichtig verbot Dreyer seinen Darstellern jegliche Schminke; selbst das Abwischen von Schweißtropfen war unerwünscht. Für die Hauptrolle erwählte er die Bühnendarstellerin Renée Jeanne Falconetti, die in Die Passion der Johanna von Orléans
ihren einzigen nennenswerten Filmauftritt hatte. Dass dieser gemeinhin zu den größten jemals auf Film eingefangenen Darbietungen gezählt wird, verdankt sie ihrer ungemein überzeugenden Leidensmiene, die freilich nur zum Teil gespielt war. Bekanntermaßen drangsalierte und schikanierte Dreyer die Ärmste bis zum völligen Nervenzusammenbruch. In einer Szene mit einem Aderlass erlaubte er wenigstens ein Double, denn was hier so fotogen herumspritzt, ist keinesfalls Filmblut.
Bei aller Innerlichkeit ist Die Passion der Jungfrau von Orléans
ein Dokument für die formale Brillanz des späten Stummfilms, an die der Tonfilm erst viele, viele Jahre später wieder anknüpfen sollte. Dreyers Schnitt ist zügig, teilweise gar rasant, die Kamera bewegt sich oft ruhelos hin und her. Die zahllosen tränenreichen Großaufnahmen von Johanna erhalten stets einen bitterbösen Kontrast durch die grimmig dreinblickenden Inquisitoren. Deren Darsteller wählte Dreyer einzig und allein nach ihrem Gesicht aus, und so agieren hier neben Berufsschauspielern auch Schriftsteller (wie Antonin Artaud) und sogar ein Café-Besitzer. Diese radikale Beschränkung auf das Wesentliche, sowohl im Dialog als auch im Bild, macht Dreyers Johanna zu einer Art Essenz dessen, was Erzählen durch reine Bildsprache überhaupt nur leisten kann. Und deshalb braucht das auch keinen Ton.
Abspann: Natürlich waren Stummfilme niemals wirklich stumm. Ihre Wirkung steht und fällt mit der Begleitmusik. Dreyer selbst hatte sich nie für eine bestimmte Musik entschieden, und so kursieren mehrere Versionen. Noch in den 90er Jahren komponierte Richard Einhorn einen neuen Soundtrack, der unter dem Titel Voices of Light
auch auf CD erschien. Der Film selbst ist derzeit hierzulande nicht auf DVD erhältlich (es gibt ihn aber im Ausland, auch mit der insgesamt sehr eindrucksvollen Musik von Einhorn).