Autor:
Giovanni Cortese
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Dieser Text ist Teil meiner Reihe mit 100 bedeutsamen Werken der Filmgeschichte. Wenn Sie mehr dazu wissen möchten, lesen Sie bitte zunächst den kurzen Einführungstext; da erkläre ich etwas genauer, was das hier soll.
(Horror, USA 1931, Regie: Rouben Mamoulian, mit Fredric March, Miriam Hopkins)
Inhalt: Die Grenzen, innerhalb deren ein englischer Gentleman im viktorianischen England seine Triebe ausleben durfte, waren ziemlich eng gesteckt. Wenn also ein angesehener, gleichwohl unverheirateter Arzt seine sexuellen Bedürfnisse stillen mochte, war das im Rahmen der bürgerlichen Konventionen kaum möglich. Der geniale Dr. Jekyll (March) brutzelt sich deshalb in seinem Labor die perfekte Lösung zusammen: eine Chemikalie, die sein gutes Ich von den bösen Trieben trennt und ihn für kurze Zeit in einen animalischen Kotzbrocken verwandelt. Unter dem Decknamen Mr. Hyde zieht er nun durch die mieseren Viertel von London und gabelt in einer Kaschemme die Prostituierte Champagne Ivy (Hopkins) auf, die er nach Herzenslust terrorisiert. Tagsüber präsentiert er sich ohne Schuldgefühle wieder als der edle Arzt, der kein Wässerchen trüben kann. Doch mit der Zeit ist Jekyll nicht mehr Herr über die Droge; Mr. Hyde gewinnt nach und nach Oberhand; und immer schmerzhafter wird die Rückverwandlung. Was natürlich böse endet.
Filmhistorisch bedeutsam, weil: Die gleichnamige Erzählung von Robert Louis Stevenson gehört zu den meistverfilmten Stoffen überhaupt. Schon in der Stummfilmzeit gab es bemerkenswerte Adaptionen. Bis heute unübertroffen ist allerdings die erste Tonfilmfassung: Fredric March verkörpert glaubhaft sowohl den engelsgleichen Dr. Jekyll als auch das affenartige Scheusal Mr. Hyde. Für seine phänomenale Leistung erhielt er völlig verdient den Oscar, wobei natürlich die seinerzeit sensationellen Maskeneffekte in den Verwandlungsszenen zu diesem Erfolg einiges beigetragen haben.
Daneben ist Miriam Hopkins nicht weniger gut als bedauernswertes Opfer von Hydes nur zu realen Gewaltphantasien. Dabei deutet Mamoulian physische Gewalt nur an (verschweigt sie aber nicht). Um so intensiver ist der psychische Sadismus, der in der Filmgeschichte seinesgleichen sucht:
Hyde Come here.
Sit down so that I can look at you, my sweetling.
Say it aloud.
Champagne Ivy What do you mean?
Hyde Don't you think I can read your thoughts, you trull?
You hate me, don't you? I'm not good enough for you!
I'm not a nice, kind gentleman like that …
Nice, kind gentlemen who are so good to look at and so …
Cowards! Weaklings!
Tell me you hate me. Please, my lamb.
My dear, sweet, pretty little bird, tell me that you hate me.
Champagne Ivy (zunehmend ängstlich) I don't know what you mean.
Hyde Don't you, my lamb?
Then you don't hate me?
Champagne Ivy No, sir.
Hyde If you don't hate me, you must love me.
Isn't that so, my little one? Isn't it?
Champagne Ivy Yes, sir.
Hyde How you must love me. I want to hear you say it.
Say it. Come, my wench. Say it!
Champagne Ivy Yes, sir!
Hyde I've got bad news for you, my dear.
Very bad. (Pause)
I'm going away for a few days.
(Sie freut sich für einen ganz kurzen Moment, aber Hyde hat es gemerkt.)
And upon my word, if you don't seem pleased.
And you are pleased, aren't you?
Champagne Ivy No, sir, I ain't pleased.
Hyde You are pleased!
But pleasure is brief in this world, my sweet …
and yours is most uncertain …
because you don't know when I'll be back.
Do you?
Champagne Ivy No, sir.
Mamoulians Dr. Jekyll & Mr. Hyde
entstand, bevor der sogenannte Hays Code ab 1934 strengere Zensurregeln für den amerikanischen Film durchsetzte. So konnte Mamoulian immerhin noch einige gesellschaftskritische Anspielungen einstreuen, die Dr. Jekylls Handeln eindeutig als Resultat seiner unterdrückten Sexualität und der erzwungenen Enthaltsamkeit entlarven: Als er beispielsweise die Nachricht erhält, dass seine Verlobte längere Zeit abwesend sein wird, nimmt er gleich einen Schluck der Droge und geht die bedauernswerte Ivy tyrannisieren. Damit dies in angemessener atmosphärischer Düsternis abgeht, fasst Kameramann Karl Struss (er erhielt immerhin eine Oscarnominierung, ebenso wie die Drehbuchautoren) dies in brillante, zum Teil expressionistisch angehauchte Bilder. Doch auch die Kamerafahrt gleich zu Beginn aus subjektiver Perspektive einschließlich Blick in einen Spiegel (!) verrät den absoluten Profi, der hier mehrfach technische Höchstschwierigkeiten mit Leichtigkeit meistert.
Abspann: Die Zahl der späteren Verfilmungen des Stoffes ist Legion. Bemerkenswert sind zum Teil gerade die Modernisierungen, von denen zwei genannt seien: Das Testament des Dr. Cordelier
(1959) von Jean Renoir ist vom Handlungsablauf sogar die getreueste Verfilmung der Stevenson-Erzählung. Hier ist der mutierte Arzt mehr ein grober Unhold, der einem Behinderten die Krücken wegtritt. 1963 drehte Jerry Lewis in Der verrückte Professor
das Motiv auf intelligente Weise um, indem das Böse diesmal in Gestalt eines extrem arroganten Schönlings auftritt.