Autor:
Giovanni Cortese
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Dieser Text ist Teil meiner Reihe mit 100 bedeutsamen Werken der Filmgeschichte. Wenn Sie mehr dazu wissen möchten, lesen Sie bitte zunächst den kurzen Einführungstext; da erkläre ich etwas genauer, was das hier soll.
(Gerichtsfilm, USA 1957, Regie: Sidney Lumet, Buch: Reginald Rose, mit Henry Fonda, Lee J. Cobb, Martin Balsam, John Fiedler, E. G. Marshall, Jack Klugman, Jack Warden, Joseph Sweeney, Ed Begley, George Voskovec, Robert Webber, s/w)
Inhalt: Nach einem Mordprozess gegen einen jungen Latino sollen die zwölf Geschworenen an einem schwülen Tag in einem engen Zimmer über Schuld und Unschuld entscheiden. Der Fall scheint klar, und einige machen keinen Hehl daraus, dass sie diesen stickigen Raum so schnell wie möglich verlassen möchten. Doch bei der Abstimmung funkt ihnen Geschworener Nummer 8 (Fonda) dazwischen. Er hat einen begründeten Zweifel an der Schuld. Zunächst wird er belächelt oder beschimpft, doch mit bezwingender Logik zerpflückt er sämtliche Details der Anklage und erwirkt einen Freispruch.
Filmhistorisch bedeutsam, weil: Ein Zitat des Schriftstellers Elwyn Brooks White lautet:
Demokratie ist die wiederholt auftauchende Vermutung, dass mehr als die Hälfte der Leute in mehr als der Hälfte der Fälle Recht haben.
Dass Demokratie im Kern jedoch ein bisschen mehr ist, wird meist übersehen. Denn Mehrheitsmeinungen entpuppen sich im Nachhinein erschreckend oft als falsch. "Die 12 Geschworenen" von Sidney Lumet und Reginald Rose ist das Hohelied auf das Individuum, das sich von einer siegessicheren Mehrheit nicht mundtot machen und niederbrüllen lässt. Gleichwohl ist das spannende Gerichtsdrama gelegentlich ein wenig manipulativ: Die Widersprüche in der Anklage sind dermaßen offensichtlich, dass der Verteidiger des Latinos schon ein Vollidiot gewesen sein muss, um nicht darauf zu stoßen. Die heftigsten Verfechter eines Schuldspruchs sind verbitterte hässliche Kerle mit Hang zu Gewalt und Rassismus. Dagegen wirken selbst in diesem Schwarzweißfilm Fondas blaue Augen so vertrauenerweckend, dass man ihm jederzeit einen Metallklotz aus der Schrottpresse als Gebrauchtwagen abkaufen würde.
Dennoch hat der Film nichts von seiner Wirkung eingebüßt, und das, obwohl (oder weil) die Inszenierung so karg wie nur möglich bleibt. Fast die ganze Handlung spielt in einem einzigen engen, schmucklosen Raum; der eigentliche Kriminalfall findet nur im Dialog statt. Weder der aufrechte Geschworene Nummer 8 noch die Zuschauer wissen am Ende mit Sicherheit, ob der Angeklagte wirklich unschuldig ist. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, was ein berechtigter Zweifel ist. Daraus entwickelt Sidney Lumet ein Kammerspiel von höchster atmosphärischer Dichte und Intensität. Neben dem cleveren Drehbuch und der straffen Regie ist das - natürlich - auch den durchweg hervorragenden Darstellern geschuldet, unter denen es bis in die Nebenrollen keinen einzigen Ausfall gibt.
"Die 12 Geschworenen" war zunächst kein Kassenerfolg, gewann jedoch in Berlin den Goldenen Bären als bester Film und wurde gewissermaßen als Spätzünder doch noch zum Klassiker und Kultfilm.
Nachspiel: Im Jahr 2007 drehte Nikita Michalkow ein russisches Remake, das trotz einer Oscarnominierung als bester nichtenglischsprachiger Film keinem Vergleich mit dem Original standhält. Michalkow zerdehnt die Handlung auf zweieinhalb Stunden, motzt sie mit Rückblenden aus den Tschetschenienkonflikt auf, um ihr noch ein bisschen feuilletonfreundliche Zeitkritik abzuquetschen, und lässt die Geschworenen nacheinander endlos ihre Lebensgeschichte erzählen. Außerdem gibt es noch zwei TV-Fassungen von 1954 und 1997.