Autor:
Giovanni Cortese
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Dieser Text ist Teil meiner Reihe mit 100 bedeutsamen Werken der Filmgeschichte. Wenn Sie mehr dazu wissen möchten, lesen Sie bitte zunächst den kurzen Einführungstext; da erkläre ich etwas genauer, was das hier soll.
Mathilde - Eine große Liebe (Un long dimanche de fiançailles)
Drama, Frankreich/USA 2004, Regie: Jean-Pierre Jeunet, Kamera: Bruno Delbonnel, mit Audrey Tautou, Gaspard Ulliel, Jean-Pierre Becker, Dominique Bettenfeld, Clovis Cornillac, Marion Cotillard, Julie Depardieu, Tchéky Karyo, Dominique Pinon, Jodie Foster
Inhalt: Im Ersten Weltkrieg ist Soldat Manech (Ulliel) einer von vielen, die als Kanonenfutter in den Schützengräben hausen. Durch Selbstverstümmelung versucht er sich dem Grauen zu entziehen, doch er wird entlarvt und zum Tode verurteilt. Zusammen mit anderen Deserteuren wird er einfach ins Niemandsland zwischen den französischen und deutschen Stellungen gejagt - irgendeine Kugel wird ihn schon treffen. Als seine Verlobte, die Waise Mathilde (Tautou, Foto), davon erfährt, will sie nicht glauben, dass Manech tot ist. Sie beschließt, die Sache aufzuklären und beginnt nach dem Krieg eine unermüdliche Detektivarbeit.
Filmhistorisch bedeutsam, weil: Jean-Pierre Jeunet zählt zu den wenigen Regisseuren der Gegenwart, die einen unverwechselbaren eigenen Stil entwickelt haben, und wer sein bisheriges Oeuvre kennt, weiß: Nicht, was erzählt wird, ist daran das Aufregendste, sondern das Wie. Nur sein in Hollywood entstandener Alien: Ressurection
fällt stilistisch und qualitativ arg aus dem Rahmen. Jeunet war also gut beraten, nach Frankreich zurückzukehren und dort im Jahr 2001 seinen bisher größten Erfolg zu drehen, sowohl beim Publikum als auch bei Kritikern: Die fabelhafte Welt der Amélie
. Dessen Erfolg ging zum nicht geringen Teil auch auf das Konto von Hauptdarstellerin Audrey Tautou, und so überrascht es nicht, dass Jeunet in Mathilde - Eine große Liebe
erneut auf sie setzte.
Es hätte nahegelegen, eine Art Amélie 2
zu drehen, den eigenen Hit noch einmal aufzukochen. Jeunet widerstand der Versuchung, obwohl sein persönlicher visueller Stil stets präsent bleibt. Nicht die heitere Verspieltheit von Amélie
prägt Mathilde
. Mit seiner oft komplex verschachtelten Erzählstruktur (mitunter am Rande der Verworrenheit) ist das kaum die leichteste Kost, und das ist insofern mutig, als Jeunet den für europäische Verhältnisse üppigen Betrag von rund 50 Millionen Euro verpulvern durfte. Und von dem Ergebnis könnte sich das deutsche Kino mit all seinen Keinohrhasen
, Zweiohrküken
und Nullhirnzellern
mehr als eine Scheibe abschneiden.
Jeunet gelingt die seltene Gratwanderung, einen Film abseits der ausgetretenen Pfade des Popcorn-Junk-Kinos zu inszenieren, ohne sein Publikum zu verachten. Er bietet wunderbare, sorgfältig komponierte Bilder, die wirklich für die große Leinwand gemacht und gedacht sind, was sich auch an der der vorbildlichen Nutzung des Breitwandformates zeigt. Dabei ist die Farbdramaturgie zwar auch nicht unbedingt neu - düster schlammgrau oder giftgrün die Frontbilder, in warmem Orange die ländliche Idylle -, doch es gehört zu den besonderen Qualitäten von Jeunet, dass er zwar einerseits altbekannte Versatzstücke verwendet, sie aber auf ungesehene Weise neu und schlüssig zusammensetzt. Die Szenen aus dem Krieg sind hart und ohne Beschönigung inszeniert, aber ohne den pseudodokumentarischen Voyeurismus eines Der Soldat James Ryan
von Spielberg (und ohne dessen patriotische Hurra-Untertöne).
Die Geschichte einer Liebe in Nachkriegswirren hätte in weniger kompetenten Händen zum Dutzendfilm auf Rosamunde Pilchers Spuren werden können (und der einfallslose deutsche Titel schreckt vielleicht manchen ab). Doch die virtuose Erzähltechnik zwischen hochdüsterem Drama und augenzwinkernder Komödie, garniert mit präzisen Dialogen, lässt Mathilde
in einer ganz anderen Liga spielen als die üblichen Plotten über große Liebe
. Sein internationaler Erfolg beweist indes, dass man das Publikum vielleicht doch nicht immer so maßlos unterschätzen muss, wie es heute leider die Regel ist.