Autor:
Giovanni Cortese
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Dieser Text ist Teil meiner Reihe mit 100 bedeutsamen Werken der Filmgeschichte. Wenn Sie mehr dazu wissen möchten, lesen Sie bitte zunächst den kurzen Einführungstext; da erkläre ich etwas genauer, was das hier soll.
100 Filme: Panzerkreuzer Potemkin (Броненосец Потёмкин)
Propaganda, Sowjetunion 1925, Regie: Sergej Eisenstein
Intro: Oben, wo ich normalerweise die wichtigsten Darsteller aufliste, klafft diesmal ein Loch. Das heißt nicht, dass hier keine Leute mitspielen. Aber sie sind einfach der ganzen Konzeption des Filmes nach nicht wichtig. Eisenstein projizierte seinen Film über die (gescheiterte) russische Revolution von 1905 nicht auf ein Einzelschicksal. Der einzige Charakter, der halbwegs Profil erhält, ist auch gleichzeitig der erste Märtyrer und demnach ziemlich bald tot.
Im übrigen aber lässt Eisenstein die Handlung ganz exemplarisch ablaufen und zeigt Einzelpersonen lediglich als eine Art Platzhalter. Gemeint ist demnach auch immer das Kollektiv (zum Beispiel aller Soldaten), nie das Individuum. Folgerichtig muss auch die Inhaltsangabe ganz unpersönlich bleiben.
Inhalt: Der Film besteht aus fünf Akten. Im ersten Akt bekommen die Matrosen mit ihrer Ration eine Extra-Fleischbeilage, und zwar in Gestalt von Maden, was sich dämpfend auf ihren Appetit auswirkt. Eine Meuterei braut sich zusammen. Im zweiten Akt will der Kapitän deshalb hart durchgreifen und ein paar der Matrosen erschießen lassen, aber dabei solidarisieren sich alle brüderlich und übernehmen das Schiff. Dritter Akt: Die Potemkin läuft in den Hafen von Odessa ein, wo die Aufständischen vom Volk auf einer Freitreppe gefeiert werden. Viele spenden Lebensmittel.
Im vierten Akt ist dann Schluss mit lustig. Zaristische Soldaten marschieren von oben nach unten die Treppe hinab und ballern dabei auf alles, was sich bewegt, bis der ganze Platz mit Leichen gepflastert ist. Die Potemkin eröffnet daraufhin das Feuer auf die Stadt.
Im fünften und letzten Akt schließlich soll die Potemkin von der Marine versenkt werden, aber wieder kommt es im letzten Augenblick zu spontanen Verbrüderungsaktionen des Volkes gegen die zaristischen Unterdrücker. Die Potemkin kommt noch einmal davon.
Filmhistorisch bedeutsam, weil: Auch wenn der Film in seiner Gesamtheit durchaus schlüssig ist, so ragt der vierte Akt mit dem Gemetzel auf der Freitreppe unverkennbar heraus. Die Szene ist sehr rasch geschnitten und voller einprägsamer Motive. Niemand, der den Potemkin gesehen hat, wird jemals das Bild des Kinderwagens vergessen, der im allgemeinen Getümmel verloren die Treppe hinunterhoppelt. Oder das der Mutter, die sich mit der Leiche ihres Jungen den zaristischen Soldaten entgegenstellt (Foto oben). Um die volle Wirkung zu erzielen, wartete Eisenstein beim Dreh, bis die Sonnenstrahlen den richtigen Winkel hatten.
Das ist eine der wenigen Szenen, von denen sich sagen lässt, dass es eine Filmgeschichte vor und eine nach ihr gab.
Natürlich ist das alles antizaristische Propaganda, es gibt dick aufgetragenes Pathos, und Eisenstein weiß schon genau, dass Kinder, Krüppel und alte Frauen als wehrlose Opfer besonders dankbar sind. Aber das ist mit solcher Meisterschaft inszeniert, dass auch ein modernes Publikum nicht unbeeindruckt bleibt.
Zu einem Stummfilm gehört auch immer die Musik. Am bekanntesten wurde der Soundtrack des früh verstorbenen Edmund Meisel. Seit den 1980er Jahren liegt diese eindrucksvolle Musik in einer wunderbar rekonstruierten Orchesterfassung vor (seinerzeit in der Eröffnungswoche der Kölner Philharmonie uraufgeführt; und ich war natürlich dabei!). Kern ist auch hier der vierte Akt, den Meisel mit stampfenden Rhythmen und einem ganzen Arsenal an Schlaginstrumenten in seiner Wirkung noch potenziert. Eisenstein selbst war von der Musik so begeistert, dass er sie dem Original vorzog. Heute wird der Film normalerweise auch mit diesem Soundtrack gezeigt.
Abspann: Zu den Bewunderern des Films zählte ein gewisser Joseph Goebbels. Natürlich verbot er ihn so schnell wie möglich, auf der anderen Seite waren ihm die suggestive und manipulative Kraft der Bilder und der Montage nicht entgangen, genauso wenig wie die oft plumpen Bemühungen im deutschen Parteikino (dessen offenkundige Schwächen er in seinem Tagebuch ziemlich klar benannte). So ließ er die deutschen Filmemacher wissen, dass er über einen deutschen Potemkin nicht unglücklich sei.
Daraus wurde bekanntlich nichts, dafür zehrten Filmemacher aus aller Welt noch lange (und im Grunde bis heute) von Eisensteins visueller Brillanz. Das bekannteste Beispiel liefert sicherlich die Schießerei in The Untouchables - Die Unbestechlichen
(1987) von Brian De Palma. Er verlegte die große Treppenszene kurzerhand in die New Yorker Central Station und machte eine wüste Schießerei daraus (mit Kevin Costner), wobei er etliche inszenatorische Details zitierte, bis hin zum Kinderwagen. Selbst in der Popkultur hat der Potemkin seinen Stempel hinterlassen: Die Pet Shop Boys schrieben eine Filmmusik dazu.